Erste und Zweite Lebenshälfte – das Konzept.
Nachdem der junge Mensch den „Weg des Helden“ (R. Rohr) durchlaufen hat, stößt er oft schon mit 35 an Grenzen, die eine Korrektur notwendig machen.
Wir sprechen von diesen Übergängen als Midlife- bzw. später als der Pensionierungskrise. Besonderes zu letzterer gibt es sehr wenig Hilfreiches zu lesen.
Erste und Zweite Lebenshälfte zu unterscheiden ist wichtig, weil sie anderen Gesetzmäßigkeiten folgen und andere Anforderungen an uns stellen:
„Wir können den Nachmittag des Lebens nicht nach demselben Programm leben wie den Morgen, denn was am Morgen viel ist, wird am Abend wenig sein, und was am Morgen wahr ist, wird am Abend unwahr sein.“ so C.G. Jung
Naturzweck und Kulturzweck des Menschen
Während das Tier nur einen Naturzweck kennt und erfüllt und dann seine Existenz beendet, gibt es beim Menschen einen anderen Ausblick. Die zweite Lebenshälfte muss mehr als nur ein allmählicher Abstieg sein. Das spüren wir schon intuitiv.
Als gläubiger Christ ist die zweite Lebenshälfte für mich so wichtig, weil sie mir hilft mein Leben zu vollenden und auf die Ewigkeit vorzubereiten, Flicken auf die Stellen zu setzen, die noch nicht ganz heil geworden sind. Es geschieht noch so viel, wofür in meiner ersten Lebenshälfte keine Zeit und kein Raum da war. Alles, was ich jetzt noch lerne und zum Positiven verändern kann, hat ewige Bedeutung, auch wenn ich die Zeit nicht mehr zurückdrehen kann. Jeder Tag ist kostbar und einmalig. Die vielen Persönlichkeiten der Bibel in fortgeschrittenem Alter unterstützen mich in dieser Überzeugung.
Das Konzept gilt aber genauso für Menschen, die dem Glauben fern stehen. Auch sie durchlaufen einen Werdegang und wenn er gelingen soll, muss es einen positiven Übergang vom „Naturzweck“ zum „Kulturzweck“ geben.
Für manche ist dieser Übergang aber sehr schwer und bitter. Darauf komme ich später noch zu sprechen.
Zweite Wende oder Abschwung?
Schon aus psychologischen Gründen kann diese zweite Wende keinesfalls nur eine Regression (=Zurückfallen auf frühere Stufen der geistigen Entwicklung) sein, denn der Mensch braucht immer eine positive Perspektive, um zu leben. Die Seele kennt keinen Rückwärtsgang. Unsere Seele kann mit einem solchen Abschwung, wie viele ihn empfinden, gar nichts anfangen. Diese Sichtweise vermittelt auch ein falsches Bild, denn sie verstellt uns den Blick für das Wesentliche: Den Kulturzweck, den Sinn der zweiten Lebenshälfte, den wir noch zu erfüllen haben.
Es ist tatsächlich ein Vorrücken auf eine höhere Stufe, eine neue Entfaltung *) auch Menschen äußerlich verfallen, setzten doch erstaunliche Entwicklungen ein, was den inneren Menschen betrifft. Diese gilt es nicht zu versäumen.
Damit verbunden ist die christliche Hoffnung auf Vollendung. Die Hoffnung hört niemals auf (1. Kor. 13;13). Sie überdauert zusammen mit Glaube und Liebe sogar den Tod. Sie wird metaphorisch als „Helm“ bezeichnet (Epheser 6:17). Das heißt, sie beschützt unsere Gedanken, so wie ein Helm das Haupt, den Ort der Gedanken beschützt.)
Kann man den Übergang aktiv gestalten?
„Mir scheint es ein großes Kunststück zu sein, auf den Zug des beruflichen Erfolgs rechtzeitig aufzuspringen und ebenso rechtzeitig wieder abzuspringen. Diesen Zeitpunkt muss jeder individuell finden“ schreibt Paul Tournier. Und weiter:
„Unterschätze nicht die Energie, die du benötigst, um etwas völlig Neues aufzubauen! Du brauchst Zeit für Übung, trainieren neuer Reflexe, Lehrzeit um Fehler auszubügeln und um ein neues Netzwerk aufzubauen. Du musst viel früher damit starten, nicht erst bei der Pensionierung! Sie ist eher der Zeitpunkt um etwas ausbauen, was vorher schon vorhanden war.“ (Gedanken aus "Die Chance des Alters" von Paul Tournier)
Ungelebtes Leben
Wie kann ich mein Alter vorbereiten?
Die Antwort auf C. G. Jungs Beobachtung, dass es Menschen so schwer fällt, von einem Abschnitt in den nächsten zu gehen ist: Zu viel ungelebtes Leben! Das Gefühl etwas versäumt zu haben! Dies zeigt sich schon in der Lebensmitte. Aber zurück gehen ist oft nicht möglich, weil man dann den nächsten Abschnitt versäumt. Man geht leichter von einem Zeitabschnitt zu einem anderen über, wenn man ihn richtig erfüllt hat.
Abraham starb in gutem Alter, alt und lebenssatt (Genesis 25,8). Warum? Er hatte seine Lebensabschnitte erfüllt.
Du bereitest also dein Alter vor, indem du das Beste aus dem Lebensabschnitt machst, in dem du dich gerade befindest. Wenn du diesen erfüllst, kannst du auch gut in den nächsten starten. Betrachte das, was du tust vom Ende her. (Gedanken aus „Die Chance des Alters“ von Paul Tournier)
Aber halt! Was mache ich, wenn eigene Fehler, äußere Umstände oder fehlerhafte Menschen meinen Lebensweg verbauen und ich das Ziel deshalb nicht erreichen kann?
Dazu haben wir auch ein leuchtendes und ermutigendes Beispiel in der Bibel:
Kaleb (4. Mose, Kap. 34)
Er war einer der 12 Kundschafter, die Mose aussandte, um die Einnahme des verheißenen Landes vorzubereiten. Aber die Mehrzahl der Kundschafter entschied sich für den Unglauben, für den Weg zurück in die Wüste. 40 Jahre vergingen und die meisten waren nicht mehr am Leben, als sich eine zweite Chance darbot. So lange musste Kaleb auf seine 2. Chance warten. Er durfte noch einmal zurück in die erste Lebenshälfte. Seine Kräfte waren erhalten geblieben und er konnte das gewünschte Ziel doch noch erreichen. Die Hoffnung und der Glaube trugen ihn durch.
Und was mache ich, wenn mein Glaube für ein Wunder nicht reicht? Es ist wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Das mache ich zur Zeit und ich versuche, den gnädigen und richtigen Blick Gottes auf mein Leben zu finden und gelten zu lassen.
Wenn du ähnliche Erfahrungen gemacht hast, dann...
*) Ein gutes Beispiel für diese neue Entfaltung ist auch in 1. Kor. 13; 11:
"Als ich ein Unmündiger war, redete ich wie ein Unmündiger, dachte wie ein Unmündiger und urteilte wie ein Unmündiger. Als ich aber ein Mann wurde, tat ich weg, was zur Unmündigkeit gehört." (symbolisiert die 1. Lebenshälfte)
V13; "Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, die größte aber von ihnen ist die Liebe." (symbolisiert die 2. Lebenshälfte. Hier zählt nur, was wirklich bleibt.)
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